Grenzenlose Hunde setzen Grenzen
Es scheint sich immer auf dieselbe Art zu entwickeln: Hunde, die zuvor als ausgesprochen freundlich galten, beißen plötzlich wie aus heiterem Himmel innerhalb der Familie, bevorzugt ihre engsten Bezugspersonen, die sich am meisten um sie kümmern. Solche Vorfälle treten in der Regel bei Hunden im Alter von 1,5 bis 3 Jahren auf und die Verletzungen können so schwerwiegend sein, dass ärztliche Hilfe erforderlich ist. Oft sind es Rüden, aber auch Hündinnen zeigen dieses Verhalten.
Die Frage drängt sich auf, was in solchen Fällen schiefgeht. Gibt es Hunde, die von Natur aus aggressiver sind? Liegt es an der Zucht? Liegt es an der Art, wie sie gehalten werden? Oder könnte es sogar an der Gesellschaft insgesamt liegen?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Welpenzeit: Oftmals trifft man auf Hündinnen, die liebenswert und anpassungsfähig sind, genau wie man es sich wünscht. Doch solche Hündinnen sind oft überfordert mit ihren Welpen und setzen ihnen nicht die notwendigen Grenzen für eine positive Entwicklung. Oder aber, sorgenvolle, jedoch oft unzureichend informierte Züchter hindern die Hündinnen daran, die Welpen angemessen zu erziehen.
Es mag nicht gerade liebevoll wirken, wenn eine Hündin ihren Welpen in die Schranken weist. Menschen neigen manchmal zu einem übermäßigen Bedürfnis nach Harmonie. Doch in der Hundewelt herrscht Harmonie nur, wenn jeder seinen zugewiesenen Platz kennt und sich sicher fühlt. Es ist wichtig, dass Hunde auch unter den Menschen, mit denen sie leben, ihren Platz finden und kennen, um ein zufriedenstellendes Zusammenleben zu ermöglichen. Dieser Prozess beginnt beim Züchter und sollte sich beim neuen Besitzer fortsetzen. Anstatt den Welpen von Anfang an ruhig und bestimmt anzuleiten und zu führen, folgen viele Besitzer bereits bei der Aufnahme des Hundes in die Familie den Wünschen des süßen Hundewelpen. Das “Kindchenschema” wird zur Falle.
Ein Hund braucht von klein auf klare Grenzen und Regeln. Diese liebevoll, aber konsequent einzufordern, ist oft nicht einfach und erfordert eine gute Führung und Akzeptanz der Führung.
Es ist einfach, immer nett zu sein, wenn man kein bestimmtes Verhalten einfordert. Kontrollierendes Verhalten, wie etwa dem Hund sogar den Gang zur Toilette zu verwehren, weil er überallhin mitläuft, wird mit Bindungsverhalten verwechselt, und das maßregelnde Anspringen wird als Freude interpretiert. Der Hund übernimmt, oft unbemerkt von den Menschen, immer mehr die Kontrolle und möchte seine Freiheiten erweitern und bewahren. Einschränkungen wie das Verweilen in einem Raum hinter einem Kindergitter oder das alleinige Verlassen des Autos werden bald nicht mehr toleriert und führen zu Zerstörungswut. Selbst das Entfernen einer Zecke wird zum Hochleistungssport.
Dazu kommt das Überbehüten, die übermäßige und ständige Aufmerksamkeit gegenüber dem Hund sowie die Unfähigkeit, loszulassen. Hunde müssen nicht immer und überall dabei sein; sie sollten lernen, zur Ruhe zu kommen und abzuschalten, auch wenn der Mensch unterwegs ist. Ausreichender Schlaf am Tag ist wichtig! Und wirklich schlafen, nicht nur dösen, immer mit einem Auge auf Wachsamkeit.
Die Impulskontrolle bei jungen Hunden ist schnell aufgebraucht und kann nur im Schlaf wieder aufgefüllt werden.
Spätestens in der Pubertät wird es anstrengend: Was bisher als “nett” abgetan wurde, zeigt sich nun durch Knurren, wenn es um Futter geht; wenn der Hund zu einem anderen Hund möchte, zeigt er Zähne oder greift nach der Hand. Hunde sind Meister darin, ihre Bezugspersonen zu begrenzen und sich zu entziehen, wenn sie etwas nicht möchten. Statt sich nun wenigstens in dieser Phase durchzusetzen (wenn auch spät), reagieren viele Hundebesitzer ängstlich auf das Knurren und Schnappen und ziehen sich unverzüglich zurück. Erfolgreiche Handlungen werden wiederholt und so findet der Hund eine Strategie, die für ihn funktioniert. Dies gibt ihm das Gefühl, “das Problem” lösen zu können – ein Teufelskreis beginnt.
Dieses Leben, das darauf abzielt, Problemen aus dem Weg zu gehen, setzt sich fort, bis zur nächsten Situation, in der der Mensch vom Hund etwas verlangt, das dieser nicht tun möchte. Hier stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder der Mensch lässt den Hund gewähren oder er setzt sich durch! Allerdings macht es wenig Sinn, den Hund in dieser Situation hart zu bestrafen. Sinnvolleres Management, Übungen der Geduld und das Zuweisen von Raum wären in diesem Fall der richtige Ansatz.
Wenn der Mensch in dieser Phase nicht konsequent ist, wird der Hund, wie bereits erprobt, erfolgreich sein – er wird stärker, sein Verhalten gefestigter. Dies setzt sich fort, bis es schließlich zu einem ernsten Beißen kommt.
Möglicherweise war dem Hund eine Ressource besonders wichtig, und der Mensch war zu nah dran; der Hund legte Wert auf einen bestimmten Platz, den der Mensch beanspruchte; der Mensch verlangte etwas vom Hund, das dieser nicht akzeptierte – all das kann die Ursache sein. Der grenzenlose Hund setzt in diesem Moment klare Grenzen für den Menschen und erreicht dadurch sein Ziel. Dieses Verhalten ist für den Hund erfolgreich, da die Aggression ihm Vorteile verschafft und zu einer effektiven Strategie in solchen Situationen wird.
In den meisten Fällen wird das Problem im Alter von 1,5 bis 2 Jahren akut und erfordert eine dringende Lösung. Viele Hunde werden in der Vermittlung abgegeben, da dies einfacher erscheint, als sich mit professioneller Hilfe an einer Verhaltensänderung von Mensch und Hund zu beteiligen.
Um das Problem anzugehen und langfristig zu lösen, müssen sowohl der Mensch als auch der Hund Änderungen vornehmen. Das Zusammenleben muss sich verändern, die Umstände müssen sich ändern – nur so haben das Mensch-Hund-Team eine Chance auf eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft.
Hunde sind keine Kuscheltiere, kein Ersatz für Partner und auch keine Mitläufer. Hunde sind eigenständige Persönlichkeiten mit individuellen Charakterzügen. Als Rudeltiere brauchen sie klare und konsequente Führung. Nur wenige Hunde möchten diese Rolle von sich aus übernehmen, denn Führung ist anstrengend und schnell überfordernd. Wenn sie vom Menschen nicht geboten wird, sind sie gezwungen, in diese ungeliebte Rolle zu schlüpfen, um das entstandene Vakuum zu füllen – mit den bereits beschriebenen Konsequenzen.
Führung sollte für den Hund von Anfang an spürbar sein, nur dann kann er sich zu einem zuverlässigen Begleiter auf Augenhöhe entwickeln. Unterordnungskommandos haben wenig mit Führungsqualität zu tun – es zählt allein die Fähigkeit des Menschen, sich als zuverlässige und vertrauenswürdige Persönlichkeit zu zeigen.
Auch wenn man sich dieser Tatsache erst später bewusst wird, ist in den meisten Fällen durch ein Umdenken und eine Anpassung der Situationen ein harmonisches Zusammenleben mit dem Hund möglich. Denn wenn jemand sich für einen Hund entscheidet, übernimmt er auch die Aufgabe, durch eine angemessene Balance zwischen Grenzen und Freiheiten einen Rahmen zu schaffen, der sowohl Mensch als auch Hund ein glückliches Miteinander ermöglicht.